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CIVIS MEDIENDIALOG 2024

Zu eng, zu düster?

Das neue Format der CIVIS Medienstiftung lotet den Zusammenhang von Perspektivenvielfalt und Medienvertrauen aus.

Journalismus ist Vertrauenssache. Denn, sagt CIVIS Geschäftsführerin Ferdos Forudastan, „ob eine Gesellschaft der vielen Verschiedenen funktioniert, hängt sehr stark davon ab, wie journalistische Medien berichten“ und ob die Menschen den Medien vertrauen. Das Vertrauen seinerseits knüpft sich bei vielen Zuschauer:innen, Hörer:innen, Leser:innen an die Antwort auf die Frage: „Spiegelt mein Sender, meine Zeitung, mein Onlinemedium verschiedene Perspektiven wider, auf jeden Fall aber auch meine Perspektive?“. Das Medienvertrauen und die Perspektivenvielfalt seien mithin elementar für die offene Gesellschaft und für die liberale Demokratie. Der Zusammenhang, den die CIVIS Geschäftsführerin in ihrer Begrüßung zum CIVIS Mediendialog in Erinnerung ruft, ist der Grundgedanke hinter dem für die Stiftung neuen Format, das im Januar 2024 in Berlin seine Premiere erlebt hat.  

Der CIVIS Mediendialog ist eine Fortentwicklung der bisherigen CIVIS Medienkonferenzen und soll wie diese ein- bis zweimal pro Jahr stattfinden. Dabei treffen Medienschaffende, Wissenschaftler:innen, Vertreter:innen von Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen in kleineren Runden – teils öffentlich, teils ohne Kamera und Mikro – zum Meinungs- und Informationsaustausch über aktuelle medienpolitische Themen zusammen. Co-Gastgeber der Premiere ist die Stiftung Mercator, die dazu in ihr ProjektZentrum Berlin eingeladen hat.

Für den ersten Aufschlag des neuen Formats haben die Veranstalter sich auf eine besonders aktuelle Frage konzentriert: Unter dem Titel „Fehlt da was?“ diskutieren die Teilnehmer:innen über die Perspektivenvielfalt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) und damit über ein Thema, das in aufgeregten Zeiten Gegenstand hitziger Debatten ist. Denn besonders dem ÖRR schlägt auf diesem Feld allerhand Argwohn entgegen. „Einseitig“, „regierungsfromm“, „wirklichkeitsfremd“, „elitär“ – an kritischen, teilweise vernichtenden Urteilen herrscht kein Mangel.

Das hat seine Auswirkungen auf die Schlüsselfrage nach dem Vertrauen. Es bröckelt. Nach der Mainzer Langzeitstudie signalisierten zuletzt noch 62 Prozent der Befragten, dass sie dem ÖRR vertrauen. Ein zwiespältiger Befund, wie Co-Gastgeberin Christiane von Websky erklärt, bei der Stiftung Mercator Leiterin des Bereichs Teilhabe und Zusammenhalt. Es sei einerseits eine immer noch beachtlich hohe Quote, andererseits die niedrigste seit Beginn der Erfassung – „wir sollten diesen Tiefstwert ernst nehmen.“

Der Mainzer Professor Marcus Maurer vom Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität und sein Team liefern mit einer neuen Studie zur „Perspektivenvielfalt in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtenformaten“ eine empirische Basis für einen Teilbereich des zur Diskussion stehenden Themas und schaffen einen Ausgangspunkt für den Mediendialog insgesamt. Maurer sowie seine Mitstreiter Pablo Jost und Simon Kruschinski haben knapp 10.000 Nachrichtenbeiträge aus dem Zeitraum April bis Juni 2023 ausgewertet, darunter Produktionen von neun öffentlich-rechtlichen Sendern. Zum Vergleich wurden Angebote privater Anbieter untersucht, sowohl aus dem Rundfunk als auch von Printmedien. Die Methode trägt der Schwierigkeit Rechnung, dass die wichtigsten Vorgaben der Mediengesetzgebung, „Meinungsvielfalt“ und „Ausgewogenheit“, nirgendwo präzise definiert sind. Vergleiche fallen daher einfacher als absolute Feststellungen.

Maurer selbst präsentiert und erläutert die Ergebnisse der neuen Studie. Bei den Themen und den jeweils erwähnten Personen („Akteure“) oder den zu Wort kommenden Personen („Sprecher“) gebe es „unglaublich große Ähnlichkeiten“ zwischen den Öffentlich-Rechtlichen und den Privaten: Wirtschaft und Arbeit liegen thematisch vorn, Minderheiten spielen kaum eine Rolle, deutsche politische Akteure und Parteien dominieren.

Auch in der Bewertung – nicht in Gestalt von Kommentaren, sondern qua Verteilung und Gewichtung von Stimmen zum jeweiligen Gegenstand – überwiegt die Gemeinsamkeit. Zwar schneiden die Regierungsparteien SPD und Grüne im ÖRR etwas besser ab als bei den Privaten. Aber für beide gilt: Es gibt einen „extrem starken Fokus auf negative Berichterstattung über die Parteien“ (Maurer).

Was also sagt der Befund im Hinblick auf die Leitfrage „Fehlt da was?“. Laut Maurer liegt der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Sachen Vielfalt und Ausgewogenheit im Mainstream, gravierende Mängel seien nicht feststellbar. Sorge mache freilich die Gewichtung – die so eindeutig überwiegend negative Politik-Berichterstattung. Das könne populistischen Strategien in die Hand spielen, das politische Geschäft grundsätzlich zu delegitimieren. Maurer: „Wenn wir sehen, dass alle etablierten Parteien als letztlich inkompetent zur Lösung von politischen Problemen dargestellt werden, kann man natürlich die These aufstellen, dass davon die AfD profitiert.“ Zudem komme bei den grundsätzlichen gesellschaftlichen Orientierungen die konservative Sicht gegenüber einer liberal-progressiven etwas zu kurz.

In der anschließenden Expert:innen-Runde des CIVIS Mediendialogs erörtern vor allem journalistische Praktiker:innen die Befunde. Die Studie spreche dankenswerterweise gegen die umlaufenden Vorurteile, findet ZDF-Chefredakteurin Bettina Schausten. Nämlich die Behauptung, die öffentlich-rechtlichen Medien seien „wechselweise Lügenpresse, Staatsfunk oder rot-grün versifft […] Insofern korrigiert das Ergebnis dieser Studie das allgemeine Bild. Das finde ich positiv.“ Zudem stehe „ein interessantes Kollateral-Ergebnis“ im Raum, „nämlich die Frage: Berichten wir eigentlich alle zusammen zu kritisch über die politische Klasse?“.

Auch Stefan Brandenburg, Chefredakteur WDR Aktuelles, zeigt sich zufrieden, dass die Studie keinen Beleg für eine links-grüne Agenda des ÖRR liefere. „Die andere Frage ist allerdings: Sind wir gut genug?“ Das sei nicht der Fall. Aus kritischer Berichterstattung dürfe nicht Gnadenlosigkeit werden. Auch das festgestellte Übergewicht einer Sozialstaatsorientierung gegenüber marktwirtschaftlichen Vorstellungen sei zu hinterfragen.

Der Kommunikations- und Medienfachfrau Nadia Zaboura ist besonders wichtig, wer zu Wort kommt. „Wer darf sprechen?“ Zu selten gehe es in den Nachrichten um Minderheiten oder marginalisierte Gruppen, zu selten würden diese selbst gehört. Stefan Locke, der als Korrespondent für die FAZ aus Sachsen und Thüringen berichtet, rechnet zu den Übersehenen auch „die größte Minderheit“, die immer wieder ignorierte Bevölkerung Ostdeutschlands. Das sei „zum Glück vorbei“, wirft Schausten ein.

Dennoch ist sich die Runde einig: Es gibt keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. „Was also wäre zu verbessern?“, will Moderator Leonard Novy, Direktor des Kölner Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik, wissen. Mehr Vielfalt bleibe ein wichtiges Ziel, das habe sich mit den Resultaten der Mainzer Studie keineswegs erledigt, erklärt Schausten. Es habe mehr zahlreiche Facetten, als die Untersuchung erfasst habe: alt – jung, arm – reich, Stadt – Land usw. „Alle bezahlen Beitrag, also müssen auch alle sich irgendwo wiederfinden.“

Nach Brandenburgs Erfahrung hat das auch damit zu tun, „dass wir uns in den Redaktionen zu ähnlich sind […] Was sind die Perspektiven von anderen Gruppen?“ Dabei darf es laut Zaboura nicht nur um mehr Interesse an Menschen jenseits des redaktionellen Newsrooms gehen. Gefragt seien auch „neue Formen des Zusammenkommens und des öffentlichen, vertrauensbasierten, sicheren Austausches miteinander. Denn das ist genau das, was zerschossen werden soll – das grundlegende Vertrauen in Institutionen wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.“ Gängige Formate, beispielsweise Talkrunden, müssten darauf überprüft werden, wer dort wie präsentiert werde.

Das Stichwort ist also Multiperspektivität, und WDR-Mann Brandenburg gibt dafür ein Praxisbeispiel: die Auseinandersetzung um die Berichterstattung über die Ausschreitungen und Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht 2015. Das habe in der Redaktion für die leidenschaftlichste Diskussion der letzten Jahre gesorgt. Man habe sich auseinandersetzen müssen einerseits mit massenhafter Gewalt junger Migranten und dadurch traumatisierten Frauen und andererseits der Lebensrealität dafür zu Unrecht in Mithaftung genommener Migrantinnen und Migranten. Man sei aber im WDR seit Jahren dabei, sagt Brandenburg, die Strukturen mit Blick auf Perspektivenvielfalt zu reformieren und eine Redaktionskultur zu schaffen, „in der wieder mehr gestritten wird.“

Wie steht es mit dem ‚negative bias‘? Muss der ÖRR sich zu einer positiveren Nachrichtengebung aufraffen? Ein unreflektierter Schwenk ins Erfreuliche findet in der Runde keine Unterstützung. Zaboura plädiert vielmehr für eine Berichterstattung zwischen den Polen positiv – negativ: „produktiv“. Damit sei keine Staatsnähe gemeint, sondern ein lösungsorientierter Journalismus. Schausten sieht es ähnlich. Auch angesichts der festzustellenden „Fixierung auf Eskalation“ (Brandenburg) könne die Devise nicht sein, der Regierung und den Parteien Fehlleistungen durchgehen zu lassen. Streit an sich sei ja nichts Schlimmes. Aber „wir müssen viel mehr an der Sache entlang berichten“ und „nicht nur die Lauten abbilden, sondern auch die Leisen suchen“, sagt die ZDF-Chefredakteurin.